J. Schneider: Spätmittelalterlicher deutscher Niederadel

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Titel
Spätmittelalterlicher deutscher Niederadel. Ein landschaftlicher Vergleich


Autor(en)
Schneider, Joachim
Reihe
Monographien zur Geschichte des Mittelalters 52
Erschienen
Stuttgart 2003: Anton Hiersemann
Anzahl Seiten
630 S.
Preis
€ 198,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Wieland, Historisches Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Die zu besprechende Monographie lag der Philosophischen Fakultät II der Universität Würzburg im Wintersemester 2000/2001 als Habilitationsschrift vor. Joachim Schneider untersucht in vergleichender Absicht den Niederadel Sachsens, Frankens und Bayerns im Spätmittelalter und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts; um Fragestellungen zu präzisieren und Ergebnisse zu kontextualisieren, werden zudem Forschungen zum Adel Österreich, Böhmens, Brandenburgs und Schwabens herangezogen.

Schneider geht für die Entwicklung seiner Fragestellung in vieler Hinsicht von Beobachtungen und Problemen aus, die sich beim frühneuzeitlichen deutschen Adel vorfinden lassen: Die Trennung des Niederadels in eine tonangebende, ökonomisch, politisch und kulturell dominierende Elite und eine – mehr oder weniger breite – inneradlige Unterschicht; die Etablierung der Reichsritterschaft in bestimmten Regionen des Reichs auf der einen, die Integration des Niederadels in den vormodernen Territorialstaat auf der anderen Seite; der Prozeß der Entstehung und institutionellen Verfestigung von Landständen, ein Vorgang, der eng mit dem Ausbau des landesfürstlichen Steuerwesens und allgemein mit der Entwicklung der Staatsgewalt verbunden ist; schließlich die Frage, ob die politischen und sozioökonomischen Umschichtungen des Spätmittelalters eine „Adelskrise“ verursachten oder ob die Krise des Niederadels ihrerseits als Ursache der massiven Veränderungen in dieser Epoche gedeutet werden kann. Damit greift der Autor in weiten Teilen etablierte Interessen der mediävistischen und frühneuzeitlichen Sozial-, Politik- und Verfassungsgeschichte auf, die in dieser Untersuchung jedoch weder in einer makrohistorischen Perspektive auf das gesamte spätmittelalterliche Reich noch in einer Detailuntersuchung zu einem einzelnen Territorium aufgehen: Vielmehr stehen kleinräumige Forschungen zu unterschiedlichen Landschaften nebeneinander, die selbst noch einmal differenziert werden – nach stadtnahen und -fernen, zentralen und peripheren Gebieten und nach Traditionen der politischen Herrschaft. Dabei fiel die Wahl der Vergleichsregionen gerade wegen der spezifischen Unterschiede, die die Möglichkeiten der Besitzkonsolidierung und –vermehrung, des sozialen Aufstiegs, der politischen (Selbst-) Organisation und Partizipation und der Positionierung zum Landesherrn und zum Reich dem Niederadel boten, auf Sachsen, Franken und Bayern: Die Rolle des Lehenswesens, die Teilnahme des Adels an den spätmittelalterlichen Reichsturnieren und der Grad der Abschließung der inneradligen Elite von der Mittel- und Unterschicht des Niederadels variierten hier markant – insofern lassen sich Ergebnisse erwarten, die sowohl in landes- als auch in reichsgeschichtlicher Hinsicht Vertiefungen, Differenzierungen und Korrekturen von Bekanntem versprechen.

Leider versäumt es der Autor, theoriegeleitete und abstrakte Kategorien und Orientierungen zu nennen (sei es der Verweis auf die mit neuer Intensität geführte Diskussion um die vormoderne Staatsbildung, seien es die Ergebnisse der Debatte um den historischen Vergleich), die die folgenden – sehr gründlichen, aufwendigen und quellengesättigten – Einzeluntersuchungen zusammenzufassen und in struktureller Perspektive wiederum zu bündeln in der Lage wären, so daß es nicht immer leicht fällt, angesichts von Ausführungen zur bayerischen Turnierliteratur des späten 15. Jahrhunderts, zu Burgenöffnungen unter den Wettinern, zur Trennung des österreichischen Herrenstandes vom Ritterstand oder zum Verhältnis von Bürgertum und Kleinadel in verschiedenen sächsischen Regionen immer den Stellenwert der einzelnen Äußerungen im Gesamtargument der Untersuchung zu erkennen; diesem Eindruck kommt auch die relative Kleinteiligkeit der Gliederung der einzelnen Kapitel entgegen, die eine fließende Lektüre – und die Bildung von übergeordneten Interpretamenten – nicht erleichtert.

Nach den einleitenden Bemerkungen zu Problemstellung und Forschungsstand stellt Joachim Schneider zunächst (im 3. und 4. Kapitel) ausführlich die bayerische und die sächsische Adelspopulation vor: Den bayerischen Adel ausgehend vom Sonderfall des „Turnieradels“, einer Oberschicht innerhalb des Niederadels, die ihre matrikelmäßige Abschließung durch die dokumentierte Teilnahme der Vorfahren an den großen Reichsturnieren des Mittelalters begründete und die gleichzeitig die ökonomische und politische Spitzengruppe des bayerischen Adels stellte, ohne dass es jedoch in verfassungsrechtlicher Hinsicht zu einer formalen Privilegierung gekommen wäre. Die Teile des sächsischen Niederadels hingegen, die im Verhältnis zum Landesherrn eine besonders große Unabhängigkeit bewahrten und innerhalb des eigenen Herrschaftsbereichs – im Gerichtswesen geronnene – besonders intensive Zugriffsrechte auf die bäuerlichen Hintersassen besaßen, entstammten jenen Familien, die Lehensbindungen zu verschiedenen Fürsten besaßen und deswegen nicht eindeutig einer bestimmten Landesherrschaft zugeordnet werden konnten – diese Uneindeutigkeit schuf Freiheiten beziehungsweise zwang die Wettiner zu Konzessionen.

Das folgende (5.) Kapitel widmet der Verfasser der vergleichenden Untersuchung der binnenadligen Differenzierung in Sachsen, Brandenburg und Bayern sowie in Österreich und Böhmen, wobei er den Schwerpunkt auf die jeweiligen Eliten legt: Die sächsischen „Schriftsassen“, die brandenburgischen „Schloßgesessenen“, die bayerischen „Turnierer“ und die österreichischen „Herren“. Bemerkenswert ist nun, dass zwar überall Differenzierungen des „Zweiten Standes“ zu beobachten sind, dass jedoch lediglich in Österreich und Böhmen zwei Landtagskurien entstanden, die diese Trennung in eine adlige Ober- und eine Unterschicht juristisch festschrieb, während in Sachsen die ursprüngliche adlige Elite im Laufe des 16. Jahrhunderts gleichsam mit dem Landesadel identisch wurde und die „Amtssassen“ fast völlig verdrängte. Die brandenburgische Spitzengruppe des Adels hingegen blieb eine Minderheit, deren Vorrechte jedoch zunehmend nur noch zeremonieller Natur waren.

Als Ergänzung der Beobachtungen zu den jeweiligen inneradligen Oberschichten folgt im 6. Kapitel der Untersuchung eine ausführliche Analyse der am unteren Rand des Zweiten Standes verorteten Familien und der Möglichkeiten des Aufstiegs in den Adel aus dem Bürgertum oder dem oberen Bauernstand; diese Ausführungen sind vor allem dem sächsischen und dem bayerischen Fall gewidmet. Es fällt auf, dass die Fluktuation zwischen Adel und Nicht-Adel in Bayern bis ins 16. Jahrhundert besonders hoch war, allerdings in markanter Abhängigkeit von dem Maße, in dem der etablierte Turnieradel in der Lage war, adligen Besitz zu akkumulieren und adlige Assoziationen zu dominieren – dann nämlich war die Möglichkeit zum Aufstieg neuen Kleinadels außerordentlich begrenzt. In Sachsen dagegen wurde die gleichzeitige Mitgliedschaft in stadtbürgerlichen und landadligen Verbänden bis zum Ende des 15. Jahrhunderts so sehr erschwert, dass das Nachrücken von Bürgern in die „Ehrbarmannschaft“ zu einem quantitativ zu vernachlässigenden Phänomen wurde. Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch für Franken machen, wo der Niederadel sich sogar gegenüber dem reichsstädtischen Patriziat deutlich abschloß, was sich in entsprechenden Bestimmungen über die Teilnahme an Turnieren niederschlug.

Während man die Ausführungen zu den Abgrenzungsvorgängen innerhalb des Adels beziehungsweise zwischen dem Adel einerseits, aufstiegswilligen Angehörigen des Dritten Standes andererseits mit „Gesellschaft“ überschreiben könnte, müßte man die Analysen des sich anschließenden Teils des Buches „Wirtschaft“ nennen: Es geht im 7. Kapitel um die ökonomischen Grundlagen des Niederadels, die wirtschaftlichen Bedingungen für die Kontinuität von Geschlechtern und die Möglichkeiten der Besitzakkumulation durch die erfolgreichen Oberschichten und Aufsteiger. Allen Adelsgruppierungen gemeinsam war die landwirtschaftliche Basis des Vermögens, die in unterschiedlicher Intensität durch (bürgerliche) Handelstätigkeiten und Finanzaktivitäten, Investitionen in den Bergbau oder militärische Dienste erweitert werden konnten. Für die bayerischen Herzogtümer läßt sich eine konstante ökonomische Dominanz des Turnieradels feststellen, die mit einer ausgesprochenen niedrigen Aussterberate einherging. Die Frequenz der Auf- und Abstiegsvorgänge am unteren Rand des Adels war dagegen sehr hoch, die Gefahr der Deklassierung für den „kleinen Kleinadel“ also besonders präsent; allerdings näherte sich das adlige Mittelfeld den Turnierfamilien in ökonomischer Hinsicht im Laufe des frühen 16. Jahrhunderts kontinuierlich an. Die kleine Ehrbarmannschaft, der untere Rand des sächsischen Adels, wurde – sofern es ihr nicht gelang, Anschluß an die Gruppe der Schriftsassen zu finden – bereits im späten 15. Jahrhundert so gut wie völlig verdrängt, da die ausgesprochen bescheidene quasi-bäuerliche Eigenwirtschaft keine Investitionen in den lukrativen Bergbau zuließ, von dem wiederum die wohlhabenderen Familien extrem profitierten. Überdurchschnittlich großer Besitz war auch für die dominierenden Clans des fränkischen Adels Voraussetzung des physischen und sozialen Überlebens; dazu kamen der Besitz von Burgen und eine Vielzahl von Lehensbindungen, besonders wichtig war aber die quantitative Größe einer Gruppe, die sich als eine Familie oder gens definierte – denn dies war es, was die ununterbrochene Teilnahme wenigstens eines Vertreters bei den Reichsturnieren ermöglichte, und Turnierteilnahme diente in zunehmendem Maße als Merkmal der Zugehörigkeit zur fränkischen Elite und Kristallisationspunkt von familiärer Identität.

Das letzte (8.) Kapitel schließlich ist das der „Politik“: Joachim Schneider stellt hier die Frage nach dem Grad der – autonomen oder gesteuerten – Organisation der verschiedenen niederadligen Gesellschaften und ihrem Verhältnis zu Reich und Territorien. Bekanntlich waren es die fränkischen Ritter, die sich der Territorialisierung des 15. und 16. Jahrhunderts erfolgreich entzogen und die sich als „Reichsritter“ unmittelbar dem Kaiser zuordneten, während der bayerische und sächsische Niederadel zum Landesadel wurde. Dass das Herauswachsen des Adels aus dem Land beispielsweise in Bayern nicht gelang, läßt sich auch politik- und militärgeschichtlich begründen: Eine starke Dynastie konnte mit der Niederschlagung des „Löwlerbundes“ 1491 den Anschluß einer selbstbewußten niederbayerischen Adelsgruppierung an die fränkischen Nachbarn verhindern; die Wittelsbachern setzten à la longue die landrechtliche Unterstellung des Adels und seiner Besitztümer unter die territorialen Landgerichte durch, während die fränkischen Fürsten für die Bindung der Ritterschaft an ihre Personen vermehrt mit dem Lehensrecht operierten, was dem Adel eine eigenständige Rechtsausübung – auch für das Blut- oder Hochgericht – beließ; die Teilnahme an Turnieren wies über den begrenzten regionalen Rahmen Frankens hinaus und die Einungen des Adels, die in Bayern im 16. Jahrhundert nicht mehr vorkamen, waren von den führenden Familien dominierte Veranstaltungen, die gleichzeitig die Gesamtheit des homogenen Niederadels zu mobilisieren in der Lage waren. In Sachsen stellten sich die Organisationsformen des Adels als Instrument fürstlicher Machtpolitik dar – die Mobilisierung der Ritterschaft stand in engem Zusammenhang mit der Intensivierung und Systematisierung des Steuerwesens und der Anfänge der Landstände; die Kontinuität des Lehenswesens bedeutete für die Wettiner die Möglichkeit der direkten Bindung der Schriftsassen an die Landesfürsten und deren allmähliche Transformation in eine unmittelbare, zunächst militärisch, dann fiskalisch gedeutete, Dienstverpflichtung.

Die Lektüre dieser Arbeit ist nicht allein wegen ihres Umfanges kein leichtes Unterfangen. Es ist zwar in vieler Hinsicht zu begrüßen, dass die Studien zu den drei Vergleichslandschaften nicht einfach – nach Sachsen, Franken und Bayern geordnet – gebündelt hintereinander erscheinen, sondern dass einzelne Aspekte der untersuchten Regionen nebeneinander gestellt werden. Andererseits macht diese konstante Teilung des Stoffes eine der organisatorischen Schwierigkeiten des Textes aus. Im Sinne eines von einer Qualifikationsschrift unterschiedenen Buches wären substantielle Kürzungen wahrscheinlich ein Gewinn gewesen.

Dennoch: Joachim Schneider hat mit dieser Habilitationsschrift eine beeindruckende Studie vorgelegt, deren Akribie über jeden Zweifel erhaben ist und die für Forschungen zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen deutschen Landes- und Adelsgeschichte zur Standardreferenz werden wird, gerade weil sie zeigt, dass für allgemeine Aussagen sowohl die detaillierte Einzeluntersuchung als auch der Vergleich unverzichtbar sind.

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